Ein Arbeitsunfall oder Beinaheunfall ist immer ein Signal, dass eine Schwachstelle im System existiert. Ein effektives Management dieser Ereignisse folgt einem klaren, strukturierten Prozess, der sicherstellt, dass Sie aus jedem Vorfall lernen. Es geht darum, den Fokus von der Frage "Wer hat einen Fehler gemacht?" auf die Frage "Warum konnte dieser Fehler passieren?" zu lenken.
Dieser Prozess lässt sich in fünf Kernphasen unterteilen:
Phase 1: Sofortmaßnahmen und korrekte Meldung
Unmittelbar nach einem Vorfall zählt schnelles und korrektes Handeln. Die Erstversorgung hat oberste Priorität. Parallel dazu muss der interne und externe Meldeprozess angestoßen werden.
Intern: Jeder Vorfall, auch ein Beinaheunfall, sollte umgehend intern dokumentiert werden. Dies schafft eine wichtige Datengrundlage für spätere Analysen.
Extern: Führt ein Arbeitsunfall zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen, ist eine offizielle Meldung an die Berufsgenossenschaft zwingend erforderlich. Die Einhaltung der gesetzlichen Meldepflicht bei Arbeitsunfällen ist dabei nicht nur eine formale Anforderung, sondern sichert auch den Versicherungsschutz für die betroffene Person. Eine verspätete oder unterlassene Meldung kann ernste rechtliche und finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen.
Phase 2: Systematische Untersuchung der Ursachen
Nach der Meldung beginnt die eigentliche Detektivarbeit. Ziel ist es, die Wurzel des Problems zu finden (Root Cause Analysis). Oberflächliche Erklärungen wie "Unachtsamkeit" reichen hier nicht aus. Fragen Sie stattdessen konsequent "Warum?":
- Warum ist die Pflegekraft gestolpert? Weil eine Kiste im Weg stand.
- Warum stand die Kiste dort? Weil der Lagerraum voll war.
- Warum war der Lagerraum voll? Weil die wöchentliche Lieferung zu früh kam.
- Warum kam die Lieferung zu früh? Weil der Prozess mit dem Lieferanten nicht klar abgestimmt war.
Diese Methode führt Sie von der individuellen Handlung zur organisatorischen Ursache. Nur wenn Sie diese beheben, verhindern Sie ähnliche Vorfälle in der Zukunft.
Phase 3: Analyse und Dokumentation
Alle gesammelten Informationen – vom Hergang des Unfalls über die Aussagen von Beteiligten bis hin zu den Ergebnissen der Ursachenanalyse – müssen sorgfältig dokumentiert werden. Diese Dokumentation ist mehr als nur eine Erfüllung der Nachweispflicht. Sie ist Ihr Wissensspeicher.
Durch die Analyse dieser Daten erkennen Sie Muster: Häufen sich Unfälle zu bestimmten Tageszeiten? In bestimmten Bereichen? Bei bestimmten Tätigkeiten? Diese Erkenntnisse sind entscheidend für die Priorisierung Ihrer Präventionsmaßnahmen und ein zentraler Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung im Gesundheitswesen.
Phase 4: Ableitung wirksamer Präventionsmaßnahmen
Die Analyse ist wertlos, wenn sie nicht in konkrete Handlungen mündet. Basierend auf den identifizierten Ursachen müssen Maßnahmen definiert werden. Diese lassen sich in der Regel nach dem T-O-P-Prinzip priorisieren:
- Technische Maßnahmen: Können Gefahrenquellen baulich oder durch technische Hilfsmittel beseitigt werden (z. B. rutschfeste Bodenbeläge, bessere Beleuchtung)?
- Organisatorische Maßnahmen: Müssen Arbeitsabläufe, Dienstpläne oder Zuständigkeiten angepasst werden (z. B. klare Lagerordnung, regelmäßige Sicherheitsunterweisungen)?
- Persönliche Maßnahmen: Ist zusätzliche Schutzausrüstung oder eine spezifische Schulung für Mitarbeitende erforderlich?
Phase 5: Umsetzung und Wirksamkeitskontrolle
Eine Maßnahme ist nur so gut wie ihre Umsetzung. Legen Sie klare Verantwortlichkeiten und Fristen fest. Noch wichtiger ist es, nach einiger Zeit zu überprüfen, ob die Maßnahme den gewünschten Effekt hatte. Ist die Unfallrate in dem Bereich gesunken? Wurde die Gefahrenquelle wirklich beseitigt? Diese Kontrolle schließt den Kreislauf und stellt sicher, dass Ihre Bemühungen nachhaltig sind.